„Das Tempo bei Artensterben und Naturzerstörung ist noch dramatischer als die Geschwindigkeit der Klimakrise.“ Das sagt der BUND und erhebt derzeit weltweit erste Verfassungsklage auf bessere Naturschutz-Gesetzgebung. Mit der Klage soll der Gesetzgeber verpflichtet werden, ein umfassendes gesetzliches Biodiversitäts-Schutzkonzept vorzulegen.
Denn „ohne intakte Ökosysteme, Bodenneubildung, funktionierende Bestäubung und Süßwasserkreisläufe ist die menschliche Existenz langfristig bedroht. Die Überschreitung der planetaren Grenzen gefährdet die physischen Grundlagen jeglicher menschlichen Freiheit. Sie bedroht damit die Menschenrechte, insbesondere die auf Leben und Gesundheit.“ (BUND)
Geklagt wird zurecht, denn Deutschland hat sich mit seiner nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt von 2007 Ziele gesetzt und sich verpflichtet, Schutzgebiete einzurichten. Doch ist in den letzten Jahren zu wenig passiert. Zum Beispiel: Es gab den Beschluss, bis 2020 fünf Prozent der Waldfläche einer natürlichen Entwicklung zu überlassen. Dieses von vornherein sehr niedrig gesteckte Ziel hat Deutschland weit verfehlt. Die EU hat sich darauf geeinigt, 10 Prozent der Landfläche strikt zu schützen. Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept, wie sie dieses Ziel in Deutschland umsetzen kann.
Momentan wird über die Verfassungsklage gesprochen, weil in Cali (Kolumbien) noch bis zum 1. November 2024 die COP 16 („Conference of the Parties“) tagt, also die 16. Weltnaturkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD Convention on Biological Diversity). Hier beurteilen die 196 Vertragsstaaten, wie die bisherigen Abkommen umgesetzt wurden und beschließen neue Ziele und Maßnahmen, um die Artenkrise zu stoppen.
Bei der Ausweisung von Naturschutzgebieten sieht die Bilanz für Deutschland schlecht aus: es belegt mit nur 0,6 Prozent ausgewiesener Schutzfläche den drittletzten Platz unter den 27 EU-Staaten. Aber auch andere Staaten sind mit ihrer Biodiversitätsstrategie im Verzug.
Die Klage richtet sich an die Gesetzgeber. Was ist das Problem? Es fehlen konkrete Maßnahmen und Zeitpläne und vor allem Verbindlichkeiten für die Umsetzungen der Maßnahmen. Parallel bräuchte es Anreize für deren Befolgung. Es reicht nicht, Schutzgebiete auszuweisen. Ein Schutzgebiet, in dem weiterhin Pestizide zum Einsatz kommen oder Holzeinschlag möglich ist, hilft der Wiederherstellung der Natur nichts.
Eine immense Herausforderung liegt darin, Industrie, Forstwirtschaft und Landwirtschaft von den Maßnahmen zu überzeugen, sie sind diejenigen, die sich an die Verordnungen halten und sie damit umsetzen müssen. Die Produktionsketten in der Agrarwirtschaft weitergedacht, sind am Ende wir Verbraucher es, die mit ihrem Konsumverhalten Einfluss auf die Herstellung von Nahrungsmitteln haben und indirekt mitentscheiden, ob am Ende der Schutz natürlicher Ressourcen gelingt oder die Zerstörung von Ökosystemen fortschreitet. Den Zusammenhang kennen wir, aber die Beiträge, die wir als Einzelne leisten können, scheinen angesichts mangelnder Entscheidungskraft seitens der Politik verschwindend gering. Trotzdem: Ganz ohnmächtig und ganz frei von Verantwortung sind wir nicht. Der Nachhall der Verfassungsklage gelangt aus weiter Distanz gelegentlich auch an unser Konsumenten-Ohr.
Im lauten Alltag geht der Hall der „Alarmglocke Artensterben“ nur meistens unter. Und mal ehrlich: Ist uns selbst eigentlich richtig klar, was das Artensterben mit unserem Leben, unserem Konsum zu tun hat? Inwiefern bedroht denn der Verlust der biologischen Vielfalt ganze Ökosysteme und damit die menschliche Existenz? Das klingt so überwältigend und brisant, dass einem das arglose Nachfragen im Hals stecken bleibt. Bienen retten ist gut, aber wieso bedroht das Insektensterben unsere Existenz?
Im Team der StadtNatur sind wir überzeugt davon, dass wir viel mehr miteinander ins Gespräch darüber kommen müssen, was die Vielfalt der Arten mit uns zu tun hat. Mit dem Wissen über Gründe, Ausmaß und Folgen des Artensterbens verstehen wir den Handlungsbedarf. Arten überhaupt kennenzulernen, egal ob Pflanzen oder Tiere, Freude an Vielfalt zu erleben, ist die emotionale Motivation dafür, ins Tun zu kommen. Zusammen mit der Nachbarschaft am Ackermannbogen gehen wir unterschiedliche Wege, uns für die biologische Vielfalt zu begeistern, mal eher praxisnahe und sinnliche - z.B. mit dem Balkonprojekt oder den Verkostungsaktionen – parallel nutzen wir spielerische bis intellektuelle Formate. Hauptsache beteiligend, interaktiv und immer mit vielen Fragen.
Das Glücksrad als geniale Methode, über Fragen miteinander ins Gespräch zu kommen, kam aus der Nachbarschaft selbst. Im Team suchten wir Quiz-Fragen, fanden immer weitere Themen zu globalen und lokalen Aspekten der biologischen Vielfalt, diskutierten lange über die richtigen Antworten, suchten nach passendem Anschauungsmaterial und hatten selbst eine Menge Spaß dabei.
Beim Aktionstag „Nachbarn für Nachhaltigkeit“ am 12. Oktober stellten wir uns als vierköpfiges Team mit dem Glücksrad und gut 50 Fragen für Erwachsene und Kinder dem Getümmel der Flohmarkt-Besucher:innen.
Im Gespräch mit den Leuten machten wir unterschiedlichste Erfahrungen, dass z.B. bereits bei den Begriffen zur biologischen Vielfalt Informationsbedarf besteht, und dass v.a. Kinder unabhängig von der Brisanz des Themas mit Leichtigkeit und Wissenshunger in das weite Feld der Biodiversität eintauchen. Manche von ihnen drehten das Rad immer wieder aufs Neue, bis sie selbst die letzte der Erwachsenen-Fragen beantwortet hatten.
Im Dialog erlebt man sich weder in der Klage noch im Ohnmachtsmodus, sondern in der Haltung der Zugewandtheit und des Staunens, auch wenn man die Antworten bereits kennt. Keine schlechte Voraussetzung dafür, um aus der Überwältigung ins Tun zu kommen. Das Gute ist ja: Wem die Artenvielfalt am Herzen liegt, kann täglich etwas für sie tun.
Wir müssen noch mehr werden, die in Gespräche gehen und wirksam werden, indem sie ihre Umgebung dabei mitnehmen.
Alle, die sich für Biologische Vielfalt interessieren, sich darüber informieren oder besser noch praktisch mitmachen wollen, sind eingeladen, sich bei unserem Biodiversität-Projekt "BioDivHubs" aktiv zu beteiligen! Kontakt: konrad.bucher@ackermannbogen-ev.de
Die nächste Gelegenheit, mit dem Kauf von Lebensmitteln etwas Konkretes für die Biologische Vielfalt zu tun, gibt es am 9. November, 12-14 Uhr in der KulturPassage, wenn Hubert und Elisabeth Birkmeir wieder Gemüse und Kartoffeln von ihren biologisch-dynamisch bewirtschafteten Feldern bringen, die nachweislich einen gesünderen Boden haben als Flächen, die mit Kunstdünger und Pestiziden behandelt werden. Und die Äpfel der Birkmeirs stammen von ihren artenreichen Steuobstwiesen, die ein wahres Paradies für Insekten sind. Parallel dazu gibt es am Stand von Alicia Bilang Produkte aus Wildobst zu probieren und zu erwerben.
Titelbild: Artenreiche Blühwiese am StadtAcker